Philosophie des Urwald-Projektes

Ziel dieses bundesweit einzigartigen Projektes ist die Verknüpfung von Entwicklung einer von Menschenhand weitgehend unbeeinflussten Wildnis. Sei der Ausweisung „schweigen die Motorsägen" in diesem Gebiet; die Kreisläufe der Walddynamik dürfen ungestört ablaufen: „Natur darf Natur sein". Bei freier Entwicklung durchläuft der Wald alle Stadien, von der natürlich entstehenden Lichtung bis zum Zerfall der Bäume. So entsteht eine große Vielfalt an Strukturen und Lebensräumen. Der Mensch ist zum Beobachten und Miterleben dieser Prozesse eingeladen. Allerdings wird es noch einige Zeit dauern, bis sich „echtes Urwalderlebnis" einstellt.


Wildnis als Beitrag zur Biodiversität

Das Saarland liegt im Kerngebiet des weltweiten Verbreitungsgebietes der Buche: Mitteleuropas heutige potentielle natürliche Vegetation (hpnV) wäre in weiten Teilen buchengeprägt oder gar buchendominiert. Damit steht das Saarland in der Verantwortung, die für Buchenwälder in all ihren Entwicklungsphasen typische biologische Vielfalt sowie die damit verbundenen natürlichen Prozesse zu schützen.

Die Anfangsvoraussetzungen hierfür sind auch aus Naturschutz-Sicht ungewöhnlich: Ein in sich geschlos-senes 2 440 ha großes Waldgebiet im insgesamt 4.400 ha großen Naturraum „Saarkohlenwald“, in dem der Urwald vor der Stadt liegt, wurde vom Ministerium für Umwelt des Saarlandes als FFH-Gebiet und SPA-Gebiet sowie vom NABU als IBA-Gebiet gemeldet. Dies belegt die bereits bestehende hohe naturschutz-fachliche Wertigkeit des Gesamtgebietes trotz seiner Lage inmitten des Verdichtungsraumes, eingeschlos-sen von Verkehrs-Trassen und Siedlungsbändern.

Das Zulassen von möglichst nah an der natürlichen Dynamik liegenden Prozessen soll letztendlich auf gro-ßer Fläche zur Ausbildung naturnaher Lebensräume – langfristig und generationenübergreifend zu „Urwald“ führen. Der Wald darf und soll sich frei entwickeln, so dass mit der Zeit alle Stadien von der Lichtung bis zur Zerfallsphase ungestört durchlaufen werden und mosaikartig miteinander verwoben sind. Eine hohe Vielfalt an natürlichen Strukturen und Lebensräumen soll und wird entstehen. Das Waldschutzgebiet soll damit ei-nen Beitrag zur Erhaltung der natürlichen Lebensraumspektren leisten.

Wildnis als Beitrag zur umweltethischen Diskussion

Warum soll der Mensch in den hochzivilisierten, übernutzten Räumen Mitteleuropas bisher genutzte Flächen freiwillig sich selbst überlassen? Die Diskussion um den "Wert der Natur an sich" aus anthropozentrischer, biozentrischer oder holistischer Sicht wird seit einigen Jahrzehnten intensiv geführt (THIELKE 1984, GORKE 1996, OTT, TROMMER, ZUCCHI 2003). Seit den 1970er Jahren wurde die Beziehung des Menschen zu Natur und Umwelt und seiner Verantwortung gegenüber der weiteren Natur-Entwicklung vermehrt themati-siert (REICHELT 1979) und mündete in der aktuellen Nachhaltigkeitsdiskussion. In diesem Zusammenhang und den Versuchen, Umwelthandeln und Umweltverhalten zu verändern, fand in der Bevölkerung eine Sen-sibilisierung der Wahrnehmung der eigenen Beziehung zu Natur statt.

Die wissenschaftlichen Studien über die Beziehung zwischen Mensch und Natur aus dieser Zeit sind vielfältig, die grundlegenden Aussagen unterscheiden sich jedoch nur wenig zwischen den einzelnen Autoren. Wesentlichste Gemeinsamkeit dieser Ansätze ist das Zugrundelegen eines gestörten Verhältnisses des modernen Menschen zur Natur (LEGEWIE, 1993). Das gestörte Verhältnis spiegelt sich nach Ansicht vieler Autoren in der tiefen Ambivalenz der Einstellung des Menschen gegenüber der Natur wider (GEBHARD 1993): einerseits faszinieren Natur und Wildnis, andererseits machen sie Angst. In der Regel wird dieses Erleben auf die Entfremdung des Menschen von der äußeren und der eigenen inneren Natur (d.h. der „Wildnis in uns“) zurückgeführt (HAUBL 1999).

Die Bemühungen, dieser Entfremdung entgegenzuwirken haben seit Ende der 1980er Jahre zu einer stärkeren Hinwendung zu Wildnis, Verwilderung und zum unterlassenden Naturschutz geführt. Eine herausragende Rolle hat hierbei das 1990 umgesetzte „DDR-Nationalparkprogramm“ gespielt, in dessen Kontext 7 neue Nationalparke im Gebiet der neuen Länder ausgewiesen wurden (RÖSLER 1999, SUCCOW 2000). Seither hat sich der Wildnisgedanke in Deutschland etabliert und findet eine immer stärkere Unterstützung.

Die gesellschaftliche Diskussion um Wildnis und Verwilderung ist auch für die Entwicklung der Bedeutung von „Wildnis“ maßgeblich. Relative Einigkeit besteht in dieser Diskussion darin, dass Wildnis in Mitteleuropa immer relativ zum Bestehenden gesehen werden muss. Echte Wildnis, also unberührte Natur, ist spätestens seit der Mensch global wirksam ist, nicht mehr denkbar, da selbst die so genannten Urwälder durch Luftverschmutzung und Klimaveränderung in ihrer Entwicklung beeinflusst werden. Vielleicht ist es gerade fehlende Verfügbarkeit „echter“ Wildnis, die der Mystifizierung und idealisierten Sichtweise von Wildnis Vorschub leistet.

Wildnis wird als ein Ort der Selbsterfahrung beschrieben, wobei zwischen zwei wesentlichen Positionen zu differenzieren ist: Einerseits die Sichtweise, die den Menschen in den Mittelpunkt rückt und Wildnis als Projektionsfläche für die Selbstinszenierung nutzt (wie beim Abenteuertourismus). Andererseits wird Wildnis als Medium der Selbsterkenntnis eingesetzt wird, wobei die Art der Wildniserfahrung aber eine eher langsame und stark von ethischen Motiven geprägte ist (wie beim „sanften“ Tourismus). Die Klärung der Frage, ob Natur und Landschaft als Wert an sich wahrgenommen werden oder eher als eine Kulisse für – mitunter besondere – Aktivitäten gelten, rückt hierbei in den Mittelpunkt. Das Projekt soll für diese umweltethische Kernfrage eine Diskussionsplattform bieten, wo sich alle Beteiligten, aber auch die Menschen in der Region (und darüber hinaus) begegnen.

Wie aus literaturwissenschaftlichen Studien geht auch aus der sozialwissenschaftlichen Literatur hervor, dass Wildnis für den Menschen weitaus mehr ist als ein Konglomerat aus Wasser- und Luftqualität und einer Anzahl bedrohter Arten (SCHAMA, 1996). Neben den gut belegten gesundheitlich positiven Auswirkungen von Naturerfahrungen auf Körper und Geist des Menschen (ULRICH 1986; 1993, cf. restorativeness) wird vor allem in der stärker populärwissenschaftlich geprägten Wildnisliteratur die ethische Dimension beim Wildniserleben hervorgehoben: Wildnis wird hierbei als Metapher für das Erhabene und Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit beschrieben, wie sie auch in der amerikanischen Wilderness-Bewegung eine tragende Rolle spielen. Bei dieser mitunter fast spirituell anmutenden Sichtweise wird Wildnis als Wert an sich wahrgenommen und der Zugang zu Wildnis ist von Ehrfurcht und von Respekt vor der Schöpfung ge-prägt. Wildnis wird somit auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive als Psychotop (TROMMER 1999) oder bedeutungsvoller Ort für den Menschen (LJUNGBERG 2001) beschrieben.

"Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern" – für Urwälder ein doppelt treffender Ausdruck. Die Vergangenheit und Zukunft von Wäldern ist aber nur in Jahrhunderten zu verstehen – im Saarkohlwald mit seinen bis an die Oberfläche anstehenden Kohleflözen in Jahrhundertmillionen. Das Projekt verfolgt den ambitionierten Anspruch, den Menschen im Großraum Saarbrücken Generationen übergreifendes Denken nahe zu bringen. Wer Generationen übergreifend denkt, wird sich im besten Sinne nachhaltig verhalten. Der Urwald als „Geschenk“ an die nachfolgenden Generationen ist daher auch Thema der Inszenierungen und der Kommunikation. Die Idee eines Friedwaldes im Zusammenhang mit dem Urwaldprojekt setzt hier neue Impulse für eine durchaus kontroverse Diskussionen über Werden und Vergehen des Menschen selbst, über Generationen vor und nach uns und damit über die Rolle und Bedeutung des Menschen in der Natur.

Mit dem "Urwald vor den Toren der Stadt" soll eine auch im internationalen Maßstab herausragende Möglichkeit geschaffen werden, diese Prozesse sowie Gedanken und Verständnis um Wildnis, Umweltethik, Natur und Naturschutz den Menschen zugänglich zu machen. Bewohner anderer Ballungsräume in Mitteleuro-pa – mit Ausnahme von Zürich und Wien – kommen meist – wenn überhaupt – im Urlaub mit Nationalparken oder anderen vergleichsweise unberührten Gebieten und deren Eigenart in Berührung. Im Saarland kann der "Urwald" im Alltag, beim täglichen Spaziergang, beim Wochenendausflug mit Kinderwagen, bei der kur-zen Fahrt mit der Stadtbahn zur nächtlichen literarischen Führung erlebt werden.

Wildnis als kulturelles Experiment

Wildnis wird aktuell besonders häufig unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten diskutiert. Aber auch die Bevölkerung verbindet mit Wildnis primär wissenschaftliche Gesichtspunkte, wobei der experimentelle Charakter von Wildnis in den Mittelpunkt gestellt wird. Wildnis und Verwilderung werden als Experiment mit offenem Ausgang betrachtet, einerseits hinsichtlich der biologischen Konsequenzen (BÜCKING 2000), andererseits hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirkung (WASEM 2002). Da die Entscheidungen, Flächen verwildern zu lassen, oft bewusste gesellschaftliche Entscheidungen sind und auf den Menschen zurückwirken, kann Wildnis als soziales Experiment betrachtet werden: ein Experiment von der Gesellschaft und mit der bzw. an der Gesellschaft, da über die Auswirkungen, welche die Etablierung von Wildnisgebieten auf die Bevölkerung hat, bislang wenig bekannt ist.

Aus den Erfahrungen mit dem Sihlwald in der Nähe von Zürich geht hervor, dass in der letzten Dekade offenbar ein Sinneswandel in der Bevölkerung stattgefunden hat. Die eingangs ablehnende Haltung der lokalen Bevölkerung ist einer weitgehend befürwortenden Haltung gewichen. Dies ist besonders deutlich daran zu erkennen, dass der Sihlwald zum Identifikationsobjekt für die umliegenden Gemeinden geworden ist (CHRISTEN 1997). Die Etablierung dieses Gebietes hat eine gesellschaftliche Beschäftigung mit Wildnis und Verwilderung initiiert.

Wildnis als der andere Ort in der Stadtlandschaft

Neue Ansätze in den Kultur- und Geisteswissenschaften haben nicht nur weitreichende Auswirkungen auf gesellschaftliche und politische Konzepte, sondern eröffnen auch innerhalb der Fachdisziplinen neue Arbeitsfelder und vor allem neue Denkmodelle. In den vergangenen zwanzig Jahren gehören dazu Konzeptionen, die sich verstärkt damit auseinandersetzen, wie Gesellschaften und Kulturen “Raum” bewohnen, schaffen, denken und/oder repräsentieren. Das heißt: es geht darum, die praktische Bedeutung dessen darzustellen, was wir über Raum und die damit verbundenen Konzepte wie Stadt, Landschaft, Architektur, Umwelt, Region und Identität wissen und denken. Darüber hinaus geht es jedoch auch darum, “neue Muster” der (kulturellen) Wahrnehmung und Deutung von Raum aufzuzeigen. Diese “neuen Muster” ergeben sich aus:

a) der Pluralisierung und Differenzierung von Gesellschaft. Es existieren bzw. entwickeln sich verschiedene kulturelle Räume gleichzeitig und “gleichräumlich”; es existieren unterschiedliche Realitäten und Referenzsysteme,

b) der teilweise sogar widersprüchlichen Überlagerung dieser Räume und Orte. Innen-Außen Grenzen werden entsprechend der kulturellen Referenzsysteme unterschiedlich definiert und modelliert.

In diesem Kontext steht die Wahrnehmung, Darstellung und Deutung neuer Muster im urbanen Raum. Die Stadt kann in dieser Diskussion als paradigmatischer (sozio-kultureller, architektonischer, geographischer usw.) Ort gelten: als Raum des Ineinandergreifens verschiedener Lebensweisen, der hybriden Strukturen und diskontinuierlichen Realitäten – ein Ort, wo Vorstellungen vom homogenen Raum unterlaufen werden. Der Blickwinkel auf “die Stadt” löst sich dabei von herkömmlichen binären Zuweisungen, dichotomischen Konzepten und Oppositionen (Stadt als Gegensatz zum Land, Zentrum als Gegensatz zur Peripherie usw.). Stattdessen werden multiperspektivische Ortungen, fließende Grenzen (“Stadtlandschaft”) und Identitäten (“Cross over”, “cluster identities”, “hybride Strukturen”) als Konstituenten des urbanen Raums begriffen.

Für den Raum “Stadt-Wildnis” bedeutet das gegenüber traditionellen Raumvorstellungen: “Wildnis” wird in dieser Konzeption nicht als oppositioneller Raum “außerhalb”, “gegenüber” der oder “im Gegensatz” zur Stadt gedacht, sondern als ein neues “anderes” urbanes Muster der StadtLandschaft: “mittendrin” und “draußen” zugleich: heterotopisch.

Von besonderer Bedeutung sind daher Projekte, die die oben skizzierten theoretischen Vorüberlegungen konkret an bzw. in zeitgenössischen und regionalen Stadtlandschaften erfahrbar machen. Vor diesem Hin-tergrund fügt sich das Projekt “Urwald vor den Toren der Stadt“ in die aktuelle Diskussion um Mensch und Raum ein und geht gleichzeitig darüber hinaus, indem wissenschaftlicher Diskurs und alltägliche Praxis gleichermaßen Bestandteil des Konzeptes sind. Dabei müssen zwei Ebenen, die sich jedoch überschneiden, unterschieden werden:

  • die materielle, d.h. auf die konkrete Stadtlandschaft bezogene und
  • die theoretisch-kognitive, d.h. auf die (kulturellen) Strategien der Repräsentation und Inszenierung der Stadtlandschaft bezogene (z. B. Mythos Wildnis/Stadt)

Mit Foucault gesprochen wäre das also a) die systematische Beschreibung der Heterotopie “Wildnis” und b) die Lektüre oder das Herausarbeiten der Phantasmen, die sie bevölkern.


Wildnis als (Kommunikations)Prozess und soziale Interaktion

In Wildnisgebieten soll eine besondere Art des Naturerlebens der Entfremdung des Menschen von der Na-tur gezielt entgegenwirken. Zahlreiche Studien belegen, dass diese (Wieder-)Annäherung des Menschen an die Natur nicht durch klassische Umweltbildung und Wissensvermittlung zu erreichen ist. Umweltwissen hat demnach nur einen schwachen Einfluss auf das Umwelthandeln (BÖGEHOLZ 1999). Eine erlebnisorien-tierte Vermittlung von Freude an der Natur sollte den Ausgangspunkt für die Umweltbildung darstellen (LUDE 2001). Dies ist dadurch begründet, dass ökologische Informationen und Appelle zu Frustration führen, wenn sie nicht mit positiven Erfahrungen und gesellschaftlichen Perspektiven verknüpft sind.

Bislang sind Schutzgebiete nur begrenzt in der Lage, die notwendigen Naturerfahrungen zu vermitteln. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der Naturschutz den Menschen oft als Störfaktor begriffen hat und das Ziel des Naturschutzes darin bestand, die Natur vor dem Menschen zu schützen. Diese Sichtweise hat die Entfremdung des Menschen von der Natur eher gefördert als ihr Einhalt zu gebieten.

Neuere Bemühungen dem Menschen (wieder) einen stärkeren Bezug zur Natur zu verschaffen, versuchen daher gezielt den Menschen bereits auf konzeptioneller Ebene bei der Etablierung von Wildnisgebieten einzubeziehen. Es geht hierbei also nicht mehr um den Schutz der Natur vor dem Menschen, sondern um den Schutz der Natur mit dem Menschen. Natur wird einerseits erlebbar durch Empfindung, also vor allem visuelle Wahrnehmung, andererseits durch Aneignung. Bei beiden Zugängen findet eine konstruierende Begegnung mit Natur statt (HERRMANN & SCHUTKOWSKI 1998).

Eine positive Mensch-Natur-Beziehung kann nur aufgebaut werden, wenn Natur und Landschaft menschlichen Bedürfnissen nach Erlebnis und Identifikation entgegenkommen. Das Bedürfnis nach Identifikation ist erfüllt, wenn Menschen sich als Individuum oder soziale Gruppe in der Landschaft wiederfinden (HUNZIKER & BUCKECKER 1999; WEICHHARD 1987, 1990). Das geht am leichtesten, wenn sie an der Entwicklung teilhaben und Spuren hinterlassen können.

Dem Erlebnisbedürfnis wird entsprochen, wenn aktive und passive Aneignung möglich sind. Aktive Aneig-nung ist einerseits möglich durch körperliche Aktivitäten (Wandern, Fahrradfahren, usw.), andererseits aber auch durch jede andere Form der aktiven Auseinandersetzung mit Natur, die über das reine Betrachten hinausgeht. Dies können beispielsweise künstlerische oder (er)forschende Aktivitäten sein. Die passive An-eignung findet durch Landschaftswahrnehmung und das damit verbundene Schönheitsempfinden statt. Diese beiden Formen der Aneignung sind nicht voneinander zu trennen: die passive und aktive Aneignung finden oft gleichzeitig statt.

Angebote, die auf eine aktive Aneignung der Wildnis zielen, sollen in engem Kontakt mit der Bevölkerung geplant und ausgeführt werden. Dies ist sowohl möglich durch die aktive Beteiligung durch die Teilnahme an der künstlerischen Vermittlung des produzierten Wissens als auch durch die aktive Gestaltung der Gebiete, beispielsweise in Bezug auf die Infrastruktur. Die Partizipation der allgemeinen Bevölkerung auf dieser grundsätzlichen Ebene erhöht nicht nur deren Akzeptanz von Wildnisgebieten, sondern erleichtert die Identifikation mit dem Wildnisgebiet und der ganzen Region. Die Identifikation mit der Wohnregion wiederum ist eine notwendige Bedingung für die Bereitschaft sich aktiv für deren nachhaltige Entwicklung einzu-setzen.

Die Möglichkeit zur Identifikation, die eine elementare Bedeutung für das Gelingen der Mensch-Natur-Beziehung hat, sollte in Wildnisgebieten also durch Partizipation erleichtert und unterstützt werden. Die Be-teiligung der Bevölkerung an der Landschaftsentwicklung (BUCHECKER 1999; BUCHECKER & SCHULTZ 1999; BUCHECKER & BERTZ 1999; BUCHECKER, 1996) führt zu einer höheren Zufriedenheit, einem positiveren Erleben „neuer“ Landschaftsmuster sowie einer engen Bindung an die Region. Allerdings sollte die Partizipation sich nicht auf die Äußerung von Wünschen beschränken, sondern darin bestehen, eigene Spuren zu hinterlassen und diese auch immer wieder entdecken und erneuern zu können. Die Partizipation muss dabei auf sehr konkreter und dauerhaft sichtbarer Ebene erfolgen.


Perspektivenwechsel und Verwilderung

Diskussionen in der Lenkungsgruppe und im Rahmen der Expertenworkshops ergaben, dass Perspektiven-wechsel und Transformationsprozesse die Kernthemen des Urwaldprojektes bestimmen. Dies betrifft nicht nur die Horizontale, in der sich Verwilderungsprozesse langsam in den Waldlebensräumen und Waldbildern niederschlagen, sondern auch die Vertikale, d. h. neue Einblicke in die Stratigraphie des Waldes, in Boden-Ökosysteme und Kronenräume zu geben.

Perspektivenwechsel und Transformationsprozesse besitzen neben der naturwissenschaftlichen auch eine gesellschaftliche Dimension. Hier gibt es noch viele offene Fragen. Welche Art von Natur und welcher Grad an Verwilderung (und damit an "mystery" und "uncertainty" bzw. "Erregung" und "Sicherheit") positiv bewertet werden, ist abhängig von kulturellen Werten und Leitbildern. Zudem verändert sich das Verhältnis zu Natur und Wildnis über die Zeit verändern und beeinflusst visuelle Präferenzen. Insofern ist nicht vorherzusehen, inwiefern Wildnis zukünftig den visuellen Präferenzen des Menschen entsprechen wird. Derzeit sind die Leitbilder vom kultivierten Land (noch) sehr präsent als Prototypen von Natur. Durch die zunehmende Konfrontation mit Wildnis werden sich diese Sehgewohnheiten, Wahrnehmungen und Bewertungen allmählich verändern. Da Menschen eine geringe Abweichung vom „Typischen“ bevorzugen (PURCELL 1992, 1994), ist gerade die Langsamkeit der Verwilderung als Chance für eine akzeptierende und positive Haltung gegenüber Wildnis zusehen. Unterstützt wird dieser Perspektivenwechsel durch eine zunehmende Zahl an wissenschaftlichen Forschungs- und Umsetzungsprojekten sowie Tagungen zur Wildnisthematik. Die gesellschaftliche Diskussion um Wildnis und Verwilderung ist auch für die Entwicklung der Bedeutung von „Wildnis“ maßgeblich.

Der "Urwald vor den Toren der Stadt" wird in den Kontext einer nachhaltigen Entwicklung der Stadtregion gestellt: Hier eröffnen sich im Rahmen eines tiefgreifenden Strukturwandels Chancen zur Neuorientierung der Freiraumnutzung. Neue urbane Muster können entstehen, nicht zuletzt „Wildnis“ in der Stadtlandschaft. Diese Stadt-Wildnis-Heterotopie kann in besonderer Art und Weise die gesellschaftliche Auseinanderset-zung über die Entwicklung der Stadtregionen und den in ihnen ablaufenden Verwilderungsprozessen in Gang setzen. Die Eigenart der in die Stadtlandschaft eingebundenen Wildnis und die ihre eigene Entwicklungsdynamik soll erfasst werden, um den Bezug zwischen dem Projekt “Urwald” und dem Raum, der ihn umgibt, herzustellen. Die Landschaft kann nur verstanden werden, wenn man die Entwicklungsdynamik eines Raumes analysiert und in einem bestimmten Maße zukünftige Entwicklungen skizziert. Jede Landschaft hat immer auch einen Möglichkeitsraum. Sowohl die Vergangenheit als auch die “Zukünfte” einer Landschaft beziehen sich auf Raumbilder, die in einem besonderen Maße für jede Planung bedeutsam sind. Raumbilder sind das Bindeglied zwischen den objektivierbaren Elementen einer Landschaft und der Menta-litätsstruktur ihrer Bewohner (IPSEN 1997a, IPSEN 1997b).

Dr. Markus Rösler

Literatur

BÖGEHOLZ, S. (1999): Qualitäten primärer Naturerfahrung und ihr Zusammenhang mit Umweltwissen und Umwelthandeln. Opladen, 237 S.

BUCHECKER, M. (1996): Wie werden Einwohner zu Einheimischen? In: Informationsblatt des Forschungsbe-reiches Landschaft 30, o.S.

BUCHECKER, M. (1999): Die Landschaft als Lebensraum der Bevölkerung: nachhaltige Landschaftsentwick-lung durch Bedürfniserfüllung, Partizipation und Identifikation. Bern, 321 S.

BUCHECKER M. & B. SCHULTZ (1999): Lebendiges Dorf, lebendiges Quartier: wie Bewohnerinnen und Be-wohner die Entwicklung mitgestalten, ein Leitfaden. Birmensdorf, 26 S.

BUCHECKER M. & TH. BERZ (1999): "Lebendige Kulturlandschaft": Wege zur Förderung der Mitgestaltung der Landschaft durch die Bewohner. In: FLS Bulletin 8, o.S.

BÜCKING, W. (2000): Naturwaldreservate, Bannwälder, Schonwälder. In: KONOLD / BÖCKER / HAMPICKE [Hrsg.]: Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege. Landsberg, S. 1-16.

CHRISTEN, M. (1997): Naturlandschaft Sihlwald - Denkpause in einer Agglomerationslandschaft. In: Bayeri-sche Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege [Hrsg.]: Wildnis - Ein neues Leitbild!? Mög-lichkeiten und Grenzen ungestörter Naturentwicklung in Mitteleuropa. Eching bei München, S. 75-80.

GEBHARD, U. (1993): Erfahrung von Natur und seelische Gesundheit. In: SEEL / SICHLER / Fischerlehner [Hrsg.]: Mensch-Natur: zur Psychologie einer problematischen Beziehung. Opladen, S. 127-147.

GORKE, M. (1998): Artensterben: von der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur. Stuttgart, 376 S.

HART, R. (1982): Wildlands for children: consideration of the value of natural environments in landscape planning. In: Landschaft und Stadt 14, S. 34-39.

HAUBL, R. (1999): Das Wilde in uns: Eine psychologische Entdeckungsreise – Wild-fremd? In: Politische Ökologie 59, S. 24-27

HERRMANN, B. & H. SCHUTKOWSKI (1998): Naturerfahrungsgebiete: humanökologische Prolegomena zur Si-cherung der Landschaft als Erlebnisraum und zur Förderung einer natur- und landschaftsverträgli-chen Erholung. In: SCHEMEL [Hrsg.]: Naturerfahrungsräume. Münster, S. 13-29.

HUNZIKER, M. & M. BUCKECKER (1999): Bedürfnisorientierte Landschaftsentwicklung im Gebirgsraum: Er-gebnisse sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. In: WSL [Hrsg.]: Nachhaltige Nutzungen im Gebirgsraum. Davos, S. 57-64.

IPSEN, D. (1997a): Raumbilder: Kultur und Ökonomie räumlicher Entwicklung. Pfaffenweiler, 124 S.

IPSEN, D. (1997b): Raum als Landschaft. In: KAUFMANN, S. [Hrsg.] (2002): Ordnungen der Landschaft: Natur und Raum technisch und symbolisch entwerfen. Würzburg, S. 33-60.

LEGEWIE, H. (1993): Zu diesem Buch. In: SEEL / SICHLER / FISCHERLEHNER [Hrsg.]: Mensch-Natur: zur Psy-chologie einer problematischen Beziehung. Opladen, S. 9-13.

LJUNGBERG, C. (2001): Wilderness from an ecosemiotic perspective. In: NÖTH / KULL [Hrsg.]: The semiotics of nature. Tartu, S. 169-186.

LUDE, A. (2001). Naturerfahrung und Naturschutzbewusstsein: eine empirische Studie. Innsbruck, Wien, München, 283 S.

OLDS, A.R. (1989): Nature as a healer: In: Children's Environments Quarterly 6, S. 27-32.

PURCELL, A. T. (1992): Abstract and specific attributes and the experience of landscape. In: Journal of Envi-ronmental Management 34, S. 159-177.

PURCELL, A. T. ET AL. (1994): Preferences or preferences for landscape. In: Journal of Environmental Psy-chology 14, S. 195-209.

REICHELT, G. (1979): Wurzeln der Umweltkrise: Ethische Gesichtspunkte zum Umweltschutz. Stuttgart, 16 S.

RÖSLER, M. (1999): Das Nationalparkprogramm der DDR. In: Institut für Umweltgeschichte und Regional-entwicklung [Hrsg.]: Naturschutz in den neuen Ländern: Band 2. Berlin, S. 561 - 596.

SCHAMA, S. (1996): Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination. München, 704 S.

SUCCOW, M. (2000): Der Weg der Großschutzgebiete in den neuen Ländern: Die Weiterentwicklung des Nationalparkprogramms von 1990. In: Naturschutz und Landschaftsplanung 2/3, S. 63-70.

TANNER, T. (1980): Significant life experiences: a new research area in environmental education. In: Envi-ronmental Education Research 4, S. 399-417.

THIELCKE, G. (1984): Warum Artenschutz? Berlin, 4 S.

TROMMER, G. (1999): Psychotop Wildnis. In: Politische Ökologie 59, S. 10-13.

TUAN, Y.-F. (1978): Children and the natural environment. In: ALTMAN / WOHLWILL [Hrsg.]: Human behaviour and environment: advances in theory and research. Vol. 3: Children and the environment. New York, London, S. 4-32.

ULRICH, R. S. (1986): Human responses to vegetation and landscapes. In: Landscape and Urban Planning 13, S. 29-44.

ULRICH, R. S. (1993). Biophilia, biophobia and natural landscapes. In: KELLERT / WILSON [Hrsg.]: The Biophi-lia Hypothesis. Washington D.C., S. 73-137.

WASEM, K. (2002): Akzeptanz von Wildnisgebieten: Hintergründe zur Befürwortung und Ablehnung von Wildnisgebieten. Unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrages in Zürich am 7.11.2002.

WEICHHART P. (1987): Wohnsitzpräferenzen im Raum Salzburg: subjektive Dimensionen der Wohnqualität und die Topographie der Standortbeurteilung. Salzburg, 469 S.

WEICHHART, P. (1990): Raumbezogene Identität: Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation. Stuttgart, 118 S.

ZARBRINSKY, P.(2002): Totholz – mehr als nur morbide Schönheit. In: Nationalpark 2, S. 39-43.

ZUCCHi, H. (2002): Wildnis als Kulturaufgabe: ein Diskussionsbeitrag. In: Natur und Landschaft 9/10, S. 373-378.